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Von Bauernhöfen und Fabriken

Cem war das, was man einen komischen Kauz nennt. Dem Produktionsleiter Manuel Maler war er suspekt. Im Kollegenkreis gab es diejenigen, die ihm blind vertrauten und jene, die ihn nicht aus den Augen ließen, wenn sie ihn in die Umkleidekabine gehen sahen. Cem selbst kümmerte sich wenig um andere Menschen und was sie dachten. Zumindest hinterließ er den Anschein, vollkommen in seiner eigenen Welt zu leben. Diese war ein großer Bauernhof im Nordwesten Anatoliens. Der passendere Ausdruck wäre wohl ein landwirtschaftliches Gut, denn für einen Agrarbetrieb war die dort zum Einsatz kommende Technologie zu veraltet. Cem war der Zweitälteste von vier Geschwistern und sein Vater zeichnete auf dem Hof für alle technischen Ausrüstungen vom Traktor bis zur Kettensäge und vom Melkapparat bis zu Steckdose verantwortlich. Cem und sein Bruder lernten schon früh alles, was zur Wartung, Reparatur und Instandhaltung dazu gehörte. Neben Arbeiten wie Schweißen, Löten, Sägen, Hobeln, Schleifen, Drehen, Mauern oder Schmieden mussten sie auch planen und instandhalten, Materialien einkaufen und vor allem improvisieren.

So konnte er sich noch gut daran erinnern, wie sie für einen Ernteanhänger eine Holzachse bauten, da die eigentliche Achse aus Eisen nicht nur gebrochen, sondern vollständig verrostet war und innerhalb der zehn Tage, in der die Ernte eingefahren werden musste, kein Ersatz aufzutreiben war. Diejenigen, die ihn nahmen wie er war und ihm vertrauten, fanden in Cem ein flexibles und kreatives mechanisches Genie, das immer eine praktikable Lösung fand. Cem selbst war zufrieden, wenn eine Sache funktionierte. Karriere, Lohnerhöhungen und dergleichen interessierten ihn nur am Rande. Er dachte mit und wollte für seinen Arbeitgeber gute und sinnvolle Arbeitsergebnisse erzielen.

Dafür ging er auch eigentümliche Wege. Wie damals, als er bei einem Kunden anrief, um ihm zu sagen, dass die Maschine, so wie sie konstruiert war, nicht funktionieren würde. Wenn man allerdings einige Kunststofflager durch günstigere Kugellager ersetzte, müsste es klappen. Es gab riesigen Ärger, da Cem nicht daran gedacht hatte, irgend jemanden zu informieren. Zu seiner Rettung sei gesagt, dass die Kugellager ebenso TÜV-gerecht und sicher waren, wie die anderen. Der einzige Unterschied war das Verhalten bei Wärmeentwicklung. Da dehnten sich die Lager aus Metall weniger aus als die Kunststofflager. Dadurch verhinderte Cem, dass die Außenseite der Lager am Gehäuse der Maschine schliffen, wodurch beide Teile zerstört worden wären. Ärger gab es vom Vorarbeiter und vom Produktionsleiter, da Cem eigenmächtig gehandelt und sich persönlich mit dem Kunden in Verbindung gesetzt hatte. Diese Eigensinnigkeit zeichnete Cem ebenso aus, wie sein Genie, denn anstatt daraus zu lernen und fortan nicht mehr aufgrund solcher Handlungsweisen aufzufallen, passierten ähnliche Vorfälle regelmäßig.

An diesem Mittwoch war Cem wieder einmal in einer Spezialmission unterwegs. Beim Zusammenbau einer neuen Maschine, die gerade aus der Vorserienfertigung kam, war ihm im Getriebeflansch etwas aufgefallen. Jetzt suchte Cem einen der Konstrukteure der Maschine, den er kannte, um mit ihm über seine Entdeckung zu sprechen. Zeitgleich saß Manuel Maler mit seinem Kollegen Stefan Busch, einem anderen Werkleiter, zusammen und sprach über die aktuellen Entwicklungen und die Vorgabe vom Vorstand, drei Prozent der Belegschaft zu entlassen. Stefan Busch sagte: „Ich habe gehört, er sei so etwas wie ein Genie wenn es um Mechanik geht. Nicht, dass er es studiert hätte und doch, so wird gesagt, macht er praktisch keine Fehler und jede seiner Korrekturen hat sich im Nachhinein als richtig herausgestellt.“ Manuel zuckte mit den Schultern. „Ja, das stimmt sogar, doch kannst du dich an unsere letze Strategieklausur erinnern, als wir die Unternehmensidentität festgezurrt haben? Da steht ganz klar: Zusammen arbeiten, sich an die Abläufe halten und mit beständiger Disziplin die Qualität sichern. Cem ist nichts davon. Er arbeitet alleine, hält sich an keinen Ablauf, vor allen nicht an solche, nach denen seine Vorgesetzten über etwas zu informieren wären. Als diszipliniert würde ich ihn auch nicht bezeichnen, zumindest nicht im Sinne der Zusammenarbeit für unser Unternehmen. Das Einzige, woran es nichts zu meckern gibt, ist die Qualität, da ist er einsame Spitze. Allerdings ist er hier schon mehr als penibel; nicht selten steht die Anlage, weil Herr Yildrim mit einem Teil nicht zufrieden ist.“ Stefan Busch sah seinen Gegenüber abwägend an: „Klar, und dass in deinem Bereich, wo sonst alles stimmt. Kaum einer ist so nahe dran an unserer Identität wie du, da bewundere ich dich wirklich dafür.“ Manuel nickte zustimmend, seufzte und schlug sich beim Aufstehen mit den flachen Händen auf die Schenkel „Genie hin oder her, dieses Mal rettet ihn das nicht, nächsten Monat ist er raus! Danke für Deine Unterstützung!“ Stefan Busch nickte zustimmend und drehte sich zurück zu seinem Schreibtisch, während Manuel das Büro verließ.

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Master and Servant [1]

Andreas war jetzt seit einigen Jahren mit der Bereichsleitung betraut. Im Konzern war es einer der kleinsten Bereiche, zählten zu ihm doch gerade einmal 28 Mitarbeiter, Führung inklusive. Da kannte jeder jeden persönlich. Trotzdem war es ein selbständiger Geschäftsbereich, denn Andreas trug die Verantwortung für die Entwicklung, die Produktion, die Verpackung und die Vertriebslogistik des Produktes und sein Vorgesetzter war Mitglied des Direktionsgremiums des Standortes. Darüber kam nur noch die Konzernzentrale. Ihr Produkt war eine Cash-Cow – wenig und kontrollierter Aufwand bei zugleich enormem Ertrag. Andreas hatte so etwas wie Narrenfreiheit, war er doch der einzige im ganzen Konzern, der wirklich die gesamte Versorgungskette und das Produkt mit seinen physikalischen und chemischen Eigenschaften kannte. An diesem Freitagmorgen bekam er eine Nachricht, die den Narren in ihm heraus forderte.

Ohne Zwischenstation über seinen Chef erhielt er aus einem Verwaltungsbereich der Konzernzentrale die Anweisung bis zum kommenden Dienstag eine Liste von drei Mitarbeitern zu erstellen, die laut seiner Einschätzung entbehrlich waren. Grund: Im Rahmen von COPE (Cost Efficiency Personal Economization) hatte eine Analyse der Leistungsdaten ergeben, dass in seinem Bereich 3,4 Mitarbeiter über Bedarf arbeiteten. In einem Vorstandsbeschluss war daraufhin entschieden worden, alle entsprechenden Potentiale auf die nächst niedrigere Zahl abzurunden und als Zielvorgabe für die notwendigen Einsparungen festzulegen. Andreas balancierte das Memo einige Zeit zwischen seinen Fingern, füllte die darunter aufgedruckte Tabelle aus, die zur Rückmeldung genutzt werden sollte und schickte das Memo via Fax zurück an die Verwaltung. Knapp eine halbe Stunde später wurde er in das Büro seines Chefs zitiert; jetzt musste er schmunzeln.
„Was hast du dir dabei gedacht!?“ Andreas Chef überging jede Begrüßungsfloskel „Mich, dich und deine einzige Führungskraft auf die Liste zu setzen?“ Ohne Eile setzte sich Andreas auf den Stuhl gegenüber dem schweren Schreibtisch. „Na ja, auf dem Memo stand: Die Mitarbeiter, die laut meiner Einschätzung am entbehrlichsten sind. Du, der Kollege und ich sind nur mit administrativen Aufgaben betraut. Wenn wir gegangen werden läuft die Produktion und damit die Wertschöpfung problemlos weiter, bis es eine Produktänderung zu geben hat, und die kann ja dann auch die Zentrale vorgeben.“ Sein Chef wogte gegen die schelmische Ruhe von Andreas an, der nicht von seinen Vorschlägen abwich. Das Ende vom Lied: Niemand wurde entlassen.

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