Nach über vierzig Jahren Betriebszugehörigkeit und mehr als zwei Jahrzehnten hier am Standort war dieser letzte Gang durch die Fabrik am besten mit seiner Körperhaltung charakterisiert: Der leicht gebeugte Rücken, sein schlurfender Schritt und die Bedächtigkeit oder auch Behäbigkeit, mit der er Türen öffnete und wieder schloss, ließ die wieselflinken intelligenten Augen beinahe verschwinden. Dabei kennzeichneten sie die Qualität, Effektivität und Effizienz, mit der er auch seine letzte, nun hinter ihm liegende Aufgabe gemeistert hatte. Aus irgendeinem vergessenen Grund war sein Sohn mit dabei und folgte ihm schweigend durch die Korridore, Treppenhäuser, Büroräume und Produktionshallen. Vor einigen Monaten hatte er erfahren, wie man nach fast einem halben Jahrhundert Arbeit für dasselbe Unternehmen dennoch einfach gekündigt werden konnte. Noch grotesker war allerdings, dass er mit der Abwicklung des Standorts beauftragt wurde. Seine Aufgabe in den letzten Wochen seiner Anstellung war demnach die Ausräumung der Maschinen, den Umzug der noch gebrauchten Büromöbel und schließlich die Verschrottung alles Übrigen – unter anderem auch persönliche Gegenstände, die von ihren Besitzern zurückgelassen worden waren – zu überwachen und zu kontrollieren. Heute nun ging er zum letzten Mal durch die ausgeweideten Innereien (s)eines Betriebes. Hinter der immergleichen Fassade erwarteten die beiden Besucher leere, höhlenartige Korridore, verlassene Hallen mit Beulen im Boden von der Last der Maschinen, die hier jahrzehntelang gestanden hatten, mit ihren leuchtenden Displays endzeitlich anmutende Zeiterfassungsautomaten, die niemand mehr benutzen würde, seltsame Flecken an den Wänden,
Rückstände der Anlagen, die hier gearbeitet hatten, abgegriffene Türknäufe, gesplitterte Glastore, verkeilte Schiebetüren, die sich nicht mehr schließen durften, ausgebeinte Technikräume mit hunderten von Löchern in der Wand, die Endpunkte oder Anfänge für Kabelkanäle, Hauspostrohre und Stromleitungen markierten und hie und da ein Neonlicht, das die Tristesse in fahles weißes Licht tauchte. Die begehbare Manifestation des Untergangs eines Industrietitans. Als er die Türe zum letzen Mal hinter sich zuzog endete nicht nur die Geschichte des Betriebs. Es endete auch ein erheblicher Bestandteil seines Lebens. Hier hatte er meist mehr als fünfzig Stunden in der Woche mit seinen Kollegen verbracht, feixend, feilschend, feiernd, gewinnend, verfehlend, argumentierend, denkend, geniessend, frustriert, diskutierend, euphorisch, verängstigt, nervös und glücklich. Es war ein abgegrenzter Raum gewesen. Ein Platz mit eigenen Prozessen, eigenen Ritualen, einer eigener Struktur und Kultur, einer eigenen Verwaltung, kurz: eine Welt mit ihren eigenen Gesetzen. Sie war klar unterscheidbar zur Außenwelt zu den anderen Betrieben, den anderen Menschen, den anderen Institutionen, zum Rest.
„Er“ ist mein Vater, ich hatte ihn damals begleitet und weiß seit diesem Tag wie trügerisch unnatürlich es ist, jeden Tag in einen Betrieb zu gehen, um zu arbeiten, der nicht der eigene ist.
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