Der ganz normale Alltagsmorgen-Wahnsinn war wieder da. Gestern, am letzen Ferientag hatte Torsten seinen fünfjährigen Sohn Oliver noch ausschlafen lassen. Heute musste pünktlich aufgestanden werden, wollte man die Kindergartentür nicht verschlossen vorfinden und den erniedrigenden Klingel-Pünktlichkeits-Belehrungsprozess der Kindergartenleiterin, Frau Hammer, riskieren. Mit seiner Frau hatte Torsten abgesprochen, dass sie sich an diesem ersten „Arbeitstag“ um die kleine Schwester von Oliver, Carlota, kümmern würde. Als er um kurz vor sechs Uhr aufstand war alles im Plan. Direkt an den Rechner und in Ruhe, bis kurz vor sieben, die Emails und den Formalkram fürs Büro erledigen, dann Oliver wecken. Um sechs Uhr dreißig wurde der Plan zum ersten Mal von Oliver gestört. Er wachte in froher Erwartung auf den Kindergartentag und das Wiedersehen mit seinen Freunden viel früher auf, als angenommen. Jetzt mussten die Malis erst einmal warten, doch das machte nichts, dann kam Oliver einfach früher in den Kindergarten und das dadurch entstehende Zeitfenster würde reichen, um vorbereitet ins Büro zu kommen. So schwang sich Torsten unter die Dusche und trug Oliver auf, sich anzuziehen. Als Torsten angezogen aus dem Bad trat musste er feststellen, dass sein Sohn dem Anziehen das Spiel mit der Holzeisenbahn vorgezogen hatte. Das Kinderzimmer war ein Chaos aus Schienen, Häuschen, Bahnübergängen, Verkehrsschildern Zügen und Modellautos. Torsten seufzte. Mit ein wenig Nachdruck und tatkräftiger Unterstützung von Papa gelang es, Oliver einzukleiden und zum gemeinsamen Frühstück aufzubrechen – ein wenig verspätet. Torsten richtete, wie jeden Morgen, alles in der Küche auf einem Tablett zusammen und Oliver half ihm, indem er die Tischsets, das Besteck und das Geschirr auf dem Esszimmertisch platzierte. Kaum hatte Torsten den ersten Schluck Tee zu sich genommen, hörte er Carlota quäken. Zum Glück war dafür seine Frau zuständig!
Nach fünf Minuten ständig wütender werdendem Gequäke stand Torsten auf und sah nach seiner Frau. Diese hatte über Nacht ein Novovirus oder etwas Vergleichbares heimgesucht. Geschwächt und kreidebleich war sie kaum in der Lage, mit Torsten zu sprechen. Das hatte die organisatorische Konsequenz, dass er sich auch um Carlota kümmern musste. Das vorgesehene Zeitfenster, um im Büro vorbereitet aufzutauchen, war soeben zugeschlagen. In der Zeit, in der Torsten Carlota anzog, überkam Oliver die Sehnsucht, Eisbär zu spielen und so hatte er kurzerhand die Sofakissen und den Wohnzimmertisch neu angeordnet, schließlich brauchte es für sein Spiel Eisschollen, Schneeberge und dergleichen mehr. Torsten seufzte.
Nach der Carlota-Fütterung war Oliver noch immer in sein Spiel vertieft und konnte nicht so einfach davon überzeugt werden, dass der Kindergarten eine wirklich attraktive Alternative zum Spiel im Wohnzimmer sei. Erst mit dem Versprechen, ein Pausenbrot mit Nutella zu bekommen, war seine Begeisterung neuerlich entfacht. Also: Carlota in den Kinderwagen, Oliver Jacke, Schuhe und Kindergartenrucksack anziehen, raus auf die Straße und zügig Richtung Kindergarten – so der neue Plan von Torsten. Kaum waren sie allerdings auf der Straße, griff Oliver die Hand seines Vaters und erklärte ihm: „Papa, so schnell zu laufen ist gefährlich und außerdem schaffe ich das gar nicht. Komm, ich zeig dir, wie das geht!“ In Anbetracht der nicht mehr einzuholenden Verspätung ergab sich Torsten in sein Schicksal, lächelte und trottete im Tempo seines Sohnes, mit einigen Zwischenstopps zur Erkundung von Käfern, Blättern, Gräsern und schlichtem Straßendreck, zum Kindergarten.
Die Türe war, wie zu erwarten, bereits verschlossen. Mit Carlota im Arm, die wieder eingeschlafen war, klingelte Torsten, ließ die mütterliche Belehrung über Pünktlichkeit von Frau Hammer über sich ergehen und wurde von Oliver an der Tür verabschiedet, nachdem er ihm geholfen hatte die Jacke auszuziehen. Auf dem Heimweg rief er im Büro an, um zumindest für den Vormittag frei zu nehmen, damit seine Frau wieder einigermaßen auf dem Damm sein konnte, wenn Oliver aus dem Kindergarten zurückkam.
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